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Arzneimittelsucht: Jeder Neunte über 50 ist gefährdet

Bei Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker - das Bewusstsein, was für ein Medikament eingenommen wird, ist in den letzten Jahren gestiegen. Eine unerwünschte Nebenwirkung, die weniger bewusst ist, ist die Abhängigkeit von einem Arzneimittel. Umso erschreckender sind aktuelle Zahlen: Jeder Neunte über 50 ist laut einer Studie des Instituts für Therapieforschung gefährdet.

Schmerzmittel, Schlafmittel, Beruhigungsmittel, Anregungsmittel stehen neben Appetitzüglern auf der Liste der abhängig machenden Medikamente.

Frauen sind stärker betroffen als Männer

Rund 1,5 Millionen Medikamentenabhängige leben schätzungsweise in Deutschland, zwei Drittel von ihnen sind Frauen. Ungefähr genauso viele Alkoholkranke sind es nach Auskunft der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Doch während es beim Alkoholismus zahlreiche Selbsthilfegruppen und eine gute Öffentlichkeitsarbeit gibt, mangelt es den Medikamentenabhängigen oft an Therapien und Leitfäden, die sie unterstützen. Die Zeitschrift "Sucht" veröffentlichte im Frühjahr die aktuelle "Repräsentativerhebung zum Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland", zuständig ist das Institut für Therapieforschung. Seit 1995 werden systematisch Erhebungen zur Einnahme von Medikamenten durchgeführt. In der aktuellen Studie 2003 wurden 8.061 Personen im Alter von 18-59 Jahren befragt. Die Gefahr, in eine Arzneimittelsucht abzugleiten, hat sich in den letzten fünf Jahren erhöht. Habe damals die Rate für problematischen Medikamentenkonsum der erwachsenen Deutschen bei 3,3 Prozent gelegen, seien es derzeit bereits 4,3 Prozent. Problemkonsumenten fänden sich vor allem unter den 50- bis 59-Jährigen. In dieser Altersgruppe gilt fast jeder Neunte als gefährdet - und Frauen in allen Altersgruppen sind mit 5,5 Prozent stärker betroffen als Männer (3,2 Prozent). 20,4 Prozent der befragten Frauen hätten mindestens ein Medikament mit "Suchtpotenzial" eingenommen, bei Männern liege diese Quote bei 13,3 Prozent. Diese deutlichen Unterschiede begründen die Experten damit, dass Frauen viel häufiger als Männer Medikamente zur Lebensbewältigung einnehmen.

Welche Schmerzmittel machen abhängig?

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren unterscheidet fünf süchtigmachende Medikamentengruppen:

  • Schmerzmittel,
  • Hustenmittel,
  • Schlafmittel,
  • Beruhigungsmittel und
  • Aufputschmittel,

ausserdem kommen noch die Appetitzügler hinzu. Etwa 80 Prozent der Betroffenen sind abhängig von den verschreibungspflichtigen Benzodiazepinen, mit denen etwa Angstzustände und Schlafstörungen behandelt werden. Diese Präparate werden dann zum Risiko, wenn sie länger als sechs Monate lang regelmässig eingenommen werden. Medikamente können wie Alkohol zur Abhängigkeit und zu körperlichen und seelischen Störungen führen. Ein erster Schritt in Richtung einer Abhängigkeit von Medikamenten zeigt sich häufig durch die Dosissteigerung. Die Symptome einer Medikamentenabhängigkeit sind eher unscheinbar:

  • Appetitlosigkeit,
  • Vergesslichkeit und
  • Gleichgültigkeit

sind Anzeichen, die oft nicht wirklich ernst genommen werden. Schmerzmittel: Von den zentral wirkenden starken Schmerzmitteln, den sogenannten Analgetika, sind die bekanntesten die Morphine. Alle derartigen Analgetika haben ein hohes Suchtpotential, d. h. schon nach kurzzeitiger Einnahme kann eine Abhängigkeit entstehen. Schwach wirkende Medikamente dieser Gruppe sind hauptsächlich als Mischpräparate im Handel. Hauptinhaltsstoffe sind Acetylsalicylsäure, Paracetamol, Propyphenazon. Sie gelten als problematisch, wenn sie zum Beispiel mit Koffein kombiniert werden. Denn nicht immer werden Schmerzmittel nur gegen Schmerzen genommen: kombiniert mit Koffein tritt neben der schmerzstillenden Wirkung ein belebender Effekt ein. Durch ihre stimulierende Wirkung erhöhen sie aber das Risiko, sich an das Medikament zu gewöhnen. Nach dem Absetzen von koffeinhaltigen Medikamenten können Kopfschmerzen als Entzugssymptome auftreten, doch dieser Effekt tritt zeitverzögert auf. Oft werden die Beschwerden nicht als Entzugssymptome gewertet, sondern als Grund genommen, den Schmerzmittelkonsum mit erhöhter Dosierung fortzusetzen. Durch Kombinationspräparate besteht das Risiko einer Nierenschädigung.
Hustenmittel (Antitussitiva): Dies sind Medikamente, die
Codein enthalten. Codein ist ein Opioid und wird im Körper individuell unterschiedlich in Morphin (5 bis 20 Prozent) umgewandelt. Aus diesem Grund wird Codein auch als Heroinersatzstoff eingenommen. Durch die missbräuchliche Verwendung kann eine Opiatabhängigkeit entstehen. Es werden auch andere Nebenwirkungen wie z. B. Verwirrtheit, Halluzinationen und Psychosen bei der Einnahme bestimmter Medikamente aus dieser Gruppe beschrieben.
Schlaf – und Beruhigungsmittel (Tranquilizer): "Die wirksamsten Schlafmittel gibt es nur auf Rezept. Geeignet sind Benzodiazepine, die mittellang wirken. Auch benzodiazepin-ähnliche Wirkstoffe wie Zolpidem und Zopiclon fördern den Schlaf.
Nachteil: Die Schlafmittel machen abhängig." So heisst es bei der Stiftung Warentest in einem entsprechenden Test. Nimmt man diese Mittel längere Zeit ein, dann kann man schon nach sieben bis vierzehn Tagen abhängig werden. An Schlaf ohne Medikament ist dann nicht mehr zu denken. Ist der Körper an Schlafmittel gewöhnt, müssen die Pillen langsam abgesetzt werden.
Aufputschmittel (Psychostimulantia): Psychostimulantien sind Mittel, die Amphetamine enthalten. Sie werden auch "Weckamine" genannt. Vertreter sind z.B. Captagon, Reactivan, Katovit. Diese Medikamente werden zur Ãœberwindung von Müdigkeit, in erster Linie zum Aufputschen genommen. Da sie auch das Hungergefühl unterdrücken, sind sie zusätzlich als Appetitzügler im Einsatz (Recatol, Ponderax). Sie sind häufig bei Berufstätigen beliebt, die ständig Termindruck haben und dauerhaft ein überdurchschnittliches Leistungspensum erbringen wollen oder müssen. Die Mittel enthalten Amphetamine und sind deshalb besonders riskant, weil die Konsumierenden zur Selbstüberschätzung neigen. Wenn aber die Wirkung des Medikamentes nachlässt, kann ganz plötzlich eine Schlafattacke eintreten. Bei chronischem Missbrauch schlägt die anfängliche Euphorie in Gereiztheit, Gespanntheit und Verstimmungen um.
Appetitzügler: Sie basieren auf derselben chemischen Struktur und zeigen ähnliche Folgen wie Aufputschmittel. Bei Dauergebrauch können sie nach Informationen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) starke Nebenwirkungen verursachen. Dazu gehören u.a.

  • Konzentrationsstörungen,
  • Reizbarkeit,
  • Leistungsschwäche,
  • Schlafstörungen,
  • Herzbeschwerden,
  • Schweissausbrüche,
  • Kreislaufstörungen,
  • Lungenhochdruck und
  • Euphorie.

Therapie und Selbsthilfe nötig

Wie Drogen- oder Alkoholsucht führt die Abhängigkeit von Medikamenten langfristig zu einem psychischen wie physischen Verfall. Dazu gehören Gedächtnisstörungen und Reaktionsverzögerungen ebenso wie Leber-, Magen- und Nierenschäden sowie Gefässveränderungen. Die Therapie ist abhängig vom Medikamententyp. Während Kopfschmerzmittel auf einen Schlag abgesetzt werden sollten, verursachen Beruhigungsmittel oft starke Nebenwirkungen, die nur durch das langsame Ausschleichen aus dem Körper gemildert werden können. "Bei einem solchen massiven Entzug empfiehlt sich eine stationäre Therapie", rät Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, gegenüber der Wochenzeitung "Das Parlament". Diese ein- bis vierwöchige Therapie solle möglichst in einer psychiatrischen Station absolviert werden. Dr. Schröer, Leiter der Abteilung Gesundheit beim BKK Bundesverband in Essen, möchte für die Betriebskrankenkassen erreichen, dass sich auch bei Medikamentenabhängigen etabliert, was bei Alkoholabhängigen bereits bewährte Praxis ist: die Selbsthilfe. Ein erster Schritt dazu ist der Leitfaden, der sich mit dem Titel "Nicht mehr alles schlucken…! Frauen. Medikamente. Selbsthilfe." speziell an betroffene Frauen richtet. Er enthält viel praktische Tipps zum Aufbau und zur Leitung einer Selbsthilfegruppe, Informationen zum Thema Medikamentenmissbrauch sowie zahlreiche Literaturhinweise und Kontaktadressen. (bo)