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Wenn Angst das Leben bestimmt

Bei Angststörungen ist der Leidensdruck groß. Schweißausbrüche, Herzrasen, Schwindel und Atemnot sind typische Symptome. Doch nur jeder zweite Patient wird behandelt.

Zwanzig Jahre lang war die Angst ihr ständiger Begleiter. „Sechs Jahre war es so schlimm, dass ich nicht mehr aus dem Haus gehen konnte“, erzählt Gerda Böhm (Name von der Redaktion geändert) „Ich war der Sklave meiner Ängste, hatte den Radius eines Bierdeckels.“

Begonnen hatte es aus heiterem Himmel: „Ich saß mit einer Freundin am Flughafen“, erinnert sich die heute 46-Jährige. „Plötzlich bekam ich Todesangst mit Schweissausbrüchen, Herzrasen, Schwindel und Atemnot.“ Den Flug überstand sie irgendwie, doch die Panikattacken kamen wieder, überfielen sie immer häufiger ohne Vorwarnung, im Auto oder beim Einkaufen. Die ehemals so lebenslustige Frau zog sich völlig zurück, delegierte alles an ihren Partner.


„Es war schlimm, total von einem anderen Menschen abhängig zu sein.“ Der Göttinger Angstforscher und Psychotherapeut Professor Borwin Bandelow bestätigt: „Angstpatienten entwickeln ein fatales Vermeidungsverhalten, das mit der Zeit chronisch wird.“ So auch Gerda Böhm: Als sie schwanger wurde, gab sie ihre Arbeit auf und saß später mit der kleinen Tochter jahrelang zu Hause.

Der Leidensdruck nimmt zu

„Das war eine willkommene Ausrede“, sagt sie heute. Irgendwann war die Angst ständig da – ein Krankheitsbild, das Psychiater als generalisierte Angststörung bezeichnen. „Der Leidensdruck war schließlich so groß, dass ich sogar an Selbstmord dachte. Erst da fand ich die Kraft, etwas zu ändern.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits mehrere gescheiterte Therapien hinter sich. „Ich habe alles Mögliche versucht“, sagt sie. „Aber Angsterkrankungen waren damals nicht sehr bekannt, sodass die Ärzte oft nur nach körperlichen Ursachen suchten.“

Schließlich entwickelte Böhm ihre ganz persönliche Strategie: „Ich gab der Angst einen Namen“, erzählt sie, „redete mit ihr, brüllte sie an – und nahm ihr so den Schrecken.“ Sie lernte, die Symptome auszuhalten, erkannte, dass nichts Schlimmes passierte. „Sich der Angst zu stellen ist die einzig wirksame Strategie“, bestätigt Bandelow.

Jeder Fünfte ist betroffen

In vielen kleinen Schritten befreite sich Gerda Böhm allmählich aus ihrer Angstfalle. „Anfangs bin ich nur mit dem Auto zum Supermarkt gefahren oder eine Runde um den Block geradelt“, erinnert sie sich. „Mit der Zeit wurde ich mutiger – es war, als würde ich wieder laufen lernen.“

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen: „Jeder fünfte Bundesbürger ist irgendwann in seinem Leben betroffen“, sagt Professor Andreas Ströhle, Leiter der Angstambulanz an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité.

Zu ihm kommen vor allem Patienten mit komplexen Angsterkrankungen wie Panikattacken, generalisierten Angststörungen und sozialer Phobie, deren Lebensqualität stark eingeschränkt ist. „Spezifische Phobien wie Spinnen- oder Höhenangst sind einfacher zu behandeln und beeinträchtigen die Patienten im Alltag weniger.“ Angst an sich ist keine Krankheit, sondern eine normale physiologische Reaktion.

„Die Angst vor realen Gefahren ist überlebenswichtig“, betont Bandelow. „Sie schützt uns zum Beispiel davor, vom Laster überfahren zu werden.“ Problematisch wird es, wenn harmlose Dinge wie Fahrstühle oder Fußgängerzonen Angst machen oder der Kontakt zu anderen Menschen zur Qual wird. „Aber auch unrealistische Ängste haben Vorteile“, meint der Psychotherapeut.

„Menschen mit einer sozialen Phobie etwa sind oft sehr erfolgreich – aus Angst, nicht gut anzukommen.“ Allerdings wirkt nur eine gemäßigte Angst als Ansporn und Triebfeder. Starke Angst kann lähmen und völlig handlungsunfähig machen.

„Eine Angsterkrankung liegt vor, wenn der Betroffene bestimmte Dinge nicht mehr tun kann und in seinem Alltag beeinträchtigt ist“, erklärt Ströhle. Wie ängstlich ein Mensch ist, bestimmen zum Teil seine Erbanlagen. „Generalisierte Angst ist zu dreißig Prozent genetisch bedingt, Panik zu fünfzig und eine einfache Phobie zu siebzig Prozent“, weiß Bandelow. „Aber auch belastende Kindheitserlebnisse können zu Angsterkrankungen führen.“

Was genau sich im Gehirn der Patienten abspielt, ist noch nicht geklärt. „Ähnlich wie bei Depressiven ist bei Angstpatienten die Konzentration der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin verändert“, berichtet Bandelow. Entwicklungsgeschichtlich alte Hirnbereiche wie der Mandelkern sind bei ihnen zudem überaktiv und schütten vermehrt Stresshormone aus.

Angst tritt oft schon in der Jugend oder bei jungen Erwachsenen auf und erhöht das Risiko anderer psychiatrischer Erkrankungen. „Jeder zweite Betroffene bekommt mit der Zeit eine Depression oder wird abhängig von Alkohol oder Medikamenten“, warnt Ströhle. „Deshalb müssen Angsterkrankungen frühzeitig erkannt und behandelt werden.“